Die Presse, 29.2.2000
Die Schwierigkeiten der Begabten: Unangepaßt und auch aufsässig
Für hochbegabte Kinder ist die gewöhnliche Schule oft ein einziger Leidensweg. Eine Expertenrunde diskutierte die besonderen Bedürfnisse der "Wunder- kinder" und fordert eigene Schulen für Hochbegabte.
VON GERTRAUD ILLMEIER
WIEN. Daß die Schule für lernschwache Kinder zumeist ein Greuel ist, verwundert nicht. Daß aber auch hochbegabte Kinder in der Schule große Schwierigkeiten haben können, ist weniger bekannt. Vergangene Woche fand im Haus der Industrie eine Informations- veranstaltung statt, die sich zum Ziel setzte, am "Tabu Hochbegabung zu kratzen".
Hochbegabung sei deshalb ein Tabu, weil kein öffentliches Bewußtsein für diese Problematik herrschte, erklärte Andreas Maislinger vom Verein "giftedchildren.net". Häufig bleibe das intellektuelle Potential der begabten Kinder von Eltern udn Lehrern sogar unentdeckt. Das hat damit zu tun, daß man als hochbegabt gewöhnlich nur die sogenannten "Wunderkinder" bezeichnet. Jene kleinen Genies also, die auf allen Gebieten den Durchschnitt weit hinter sich lassen. Mittlerweile weiß man, daß es auch einseitig begagte Kinder gibt, die "nur" eine spezielle Begabung haben, deren andere Fähigkeiten aber "normal" oder sogar unterentwickelt sind.
Entgegen der geläufigen Meinung erhalten überdurchschnittlich begabte Kinder deshalb auch nicht lauter "Ausgezeichnet" im Zeugnis. Häufig ist genau das Gegenteil der Fall: "Die Kinder glänzen nicht durch Noten. Aber wenn sie richtig geprüft werden, bringen sie Resultate, von denen wir nur träumen können", weiß Jean-Jacques Bertschi, Begründer der Hochbegabten-Schule Talenta Zürich.
Begabte Kinder denken "anders", nämlich in Querverbindungen. Das be- deutet, daß sie womöglich auf eine ganz konkrete, einfache Frage nicht antworten können, dafür aber in der Lage sidn, komplizierte fach- übergreifende Zusammenhänge sofort zu erfassen.
Begabung als Nachteil
Doch diese Gabe hilft ihnen häufig nichts. Aufgrund ihrer Andersartigkeit gelten sie im Kindergarten und in der Schule als "komisch", werden vond den Mitschülern verspottet und von den Lehrern nicht verstanden. Im schlimmsten Fall diskriminieren auch die Lehrer, weil diese aufgrund der Unangepaßtheit, vor allem aber der intellektuellen Überlegenheit des Zöglings eine Untergrabung ihrer Autorität befürchten. Manchmal dauert dieser Leidensweg jahrelang und kann bis zum Selbstmord führen.
Robert Mulvey gilt als Pionier auf dem Gebiet der Förderung von Hoch- begabten. Vor elf Jahren gründete er die Cademuir International School in Schottland. Derzeit studieren dort hochbegabte Schüler zwischen acht und 18 Jahren aus ganz Europa. Die Besonderheit ist, daß für jedes Kind ein ganz individueller Stundenplan zusammengestellt wird. Es gibt keine Klassen, sondern Fachgruppen, wo Schüler nicht ihrem Alter, sondern ihren Fähigkeiten entsprechend gemeinsam lernen.
Die zweite europäische "Pionierleistung" dieser Art entstand auf Initiative von Jean-Jacques Bertschi in der Schweiz: vor zwei Jahren wurde die Schule Talenta Zürich im Grundschulalter eröffnet. In Österreich gibt es eine einzige Schule, die speziell für Hochbegabte zugeschnitten ist: die Sir-Karl-Popper-Schule für Schüler ab der fünten Klasse am Wiedner Gürtel in Wien,d ie seit zwei Jahren als Schulversuch läuft.
Die Förderung außergewöhnlicher Fähigkeiten müsse jedoch wesentlich früher beginnen, betonte Maislinger. "Mit 15 Jahren gibt es keine hoch- begabten Kinder mehr. Die Begabung ist dann irgendwie verloren gegangen, geschrumpft wie ein Muskel." In Österreich schätzt man die Zahl der hochbegabten Kinder auf rund 25.000, das sind zwei bis drei Prozent aller Schüler.
Der Handlungsbedarf ist also groß. Thomas Köhler, zuständig für die Begabtenförderung im Unterrichtsministerium, bezeichnete die "Bewußtseins- bildung" im Ministerium als "gut fortgeschritten". Begabte würden direkt in speziellen Sommerakademien und indirekt durch Lehrerausbildung gefördert.
Köhler wies auch auf Kooperationen zwischen Schulen und Hochschulen hin, die Schnupperwochen für hochbegabte Kinder anböten. Dennoch konnte auch er der verzweifelten Mutter eines hochbegabten, völlig unangepaßten Kindes nur raten, ihr Kind "ins Ausland zu schicken". In Österreich gäbe es keine Möglichkeit, dem Buben zu helfen.