Dr. Ella Lingens-Rainer und Dr. Kurt Lingens - 1991
Nach dem Anschluss im März 1938 standen die Gegner des Naziregimes, Ella
Lingens und ihr Mann Dr. Kurt Lingens, vor der Wahl auszuwandern oder in Österreich
zu bleiben. Sie fragten sich, ob es ein Bleiben gebe, ohne mitschuldig zu werden
und ob die innere Emigration Rechtfertigung genug sei.
Ella Lingens wollte Österreich nicht verlassen. "Wollen wir sie wirklich denen überlassen?", fragte sie. Ihr Mann reagierte darauf: "Gut, wir bleiben hier aber unter einer Bedingung: Wir werden keinen, der von dem Regime verfolgt wird und uns bittet, ihm zu helfen, je unsere Hilfe verweigern."
Ella Lingens, 1908 in Wien geboren, hatte in München, Marburg und Wien Medizin studiert. Schon als Medizinstudentin nach dem Anschluss hatte sie jüdischen Kommilitonen zur Emigration verholfen. Während der Reichskristallnacht gewährte das Ehepaar Lingens in seiner Wohnung zehn Juden Unterstand. Es hat Juden geholfen, nach Ungarn zu fliehen, U-Boote bei sich aufgenommen und beherbergt und die Eltern ausgewanderter Freunde mit Lebensmittel unterstützt.
Der Arzt Dr. Kurt Lingens war deutscher Staatsbürger, wurde 1933 wegen
seiner Zugehörigkeit zu einer antifaschistischen Studentengruppe von allen
deutschen Hochschulen ausgeschlossen.
1939 lernte das Ehepaar Lingens Karl Motesicky kennen, einen begüterten
Mann, der auch seinen jüdischen Verwandten zur Emigration verhalf. Ella
Lingens, ihr Mann und Motesicky bedienten sich bei ihrer Judenrettung der Hilfe
des Wiener Schauspielers Klingers, der jedoch ein Informant der Polizei und
Spitzel war.
Im Sommer 1942 begannen die Deportationen der Juden aus Wien. Viele Juden wandten sich an das Ehepaar Lingens um Hilfe. Einige von ihnen hatten vor ihrer Deportation ihre Wertsachen bei der Familie Lingens eingelagert. Eines Tages kam der Vater von bereits emigrierten Freunden zur Familie. Er wolle nach Polen fahren, sagte er. Er habe die Einladung seines Bruders, der in Polen lebt, dass er zu ihm kommen könne, aber die Beamten der Jüdischen Kultusgemeinde in Wien erlauben es ihm nicht. Dr. Lingens begab sich in Uniform eines Wehrmachtoffiziers, der in einem Wiener Lazarett arbeitete, in das Büro der Kultusgemeinde und erledigte die Angelegenheit. Als das Ehepaar Lingens im Sommer 1942 von der polnischen Untergrundbewegung, mit der es zusammen arbeitete, ersucht wurde, den illegalen Transfer von zwei jüdischen Ehepaaren der Brüder Jakob und Bernhard Goldstein, durchzuführen, nahm es ein Ehepaar bei sich auf, fand für das andere ein geeignetes Versteck und verhandelte mit Klinger über ihre Rettung. Klinger brachte die zwei Ehepaare Goldstein an die Grenze, lieferte sie jedoch am 4. September 1942 in Feldkirch an die Deutschen aus und verriet ihre Helfer.
Am 13. Oktober 1942 wurden Karl Motesicky und das Ehepaar Lingens wegen finanzieller Hilfe an Mitglieder der polnischen Widerstandsbewegung und der Austeilung gefälschter Ausreise verhaftet. Das Ehepaar Lingens wurde von seinem drei Jahre alten Sohn getrennt. Motesicky und das Ehepaar Lingens wurden zum Hauptquartier der Gestapo am Morzinplatz gebracht. Frau Lingens wurde dort vier Monate lang verhört. Im Februar 1943 wurden das Ehepaar Lingens und Motesicky nach Auschwitz deportiert, wo Motesicky am 25. Juni 1943 umgebracht wurde.
Ella Lingens wurde im Lager im polnischen Krankenblock beschäftigt, wo es auch viele jüdische Patientinnen gab. Sie setzte ihre Rettungsaktionen fort. In einem Fall erschien ein Angehöriger des Sicherheitsdienstes im Block, in dem sich 13 jüdische Lagerinsassinnen befanden, um ihre Namen für eine Selektion zu notieren. Die 19jährige Postmeistertochter aus Vircucive in Kroatien, die im Block als Putzerin beschäftigt war, hatte gerade Flecktyphus überstanden und sah wie Haut und Knochen aus. Dem Angehörigen des SD fiel sie sofort als Kandidatin für die Selektion auf, doch Frau Lingens erklärte, dass Mirjam mit ihr als Pflegerin arbeite. Darauf verließ er den Block ohne die Namen der 13 Blockinsassinnen zu notieren. Frau Lingens hatte sie vor der bevorstehenden Selektion und wahrscheinlich auch vor ihren sicheren Tod gerettet.
In einem anderen Fall wandte sich eine junge Frau namens Lejmann aus Frankfurt am Main nach ihrer Entlassung aus dem Typhusinfektionsblock an sie um Hilfe. Kurz davor hatte die Oberaufseherin des Frauenlagers in einem Ukas festgestellt, dass im Lager trotz des strikten Verbots und zahlreicher Warnungen "arische", sogar deutsche Häftlinge, freundschaftlich mit jüdischen Lagerinsassinnen verkehren. Sie machte darauf aufmerksam, dass solche Häftlinge einen Judenstern erhielten und von nun ab ebenfalls als jüdische Häftlinge gelten würden.
Der Lagerarzt sagte Lingens, sie solle nicht unliebsam auffallen, da ihre Entlassung aus dem Lager in den nächsten Wochen vorgesehen sei. Wenn sie sich als deutsche "Arierin" für diese jüdische Frau verwendete, riskierte sie den Unwillen der Waffen-SS und damit, ihre Entlassung aus dem Lager in Frage zu stellen.
Trotzdem beschloss sie, Lejmann zu helfen. Sie begab sich zur politischen Abteilung des Frauen-KZ's, meldete sich beim diensthabenden Lagerarzt und erklärte ihm, ein hoher Offizier der Waffen-SS habe ihr aufgetragen, für das Wohl von Lejmann zu sorgen. Der Lagerarzt erteilte die Anordnung, von der Selektion von Lejmann Abstand zu nehmen und sie im Lager zu lassen.
Ella Lingens war im Lager Auschwitz vom Februar 1943 bis Dezember 1944. Dann wurde sie ins Außenlager von Dachau überführt. Nach der Befreiung arbeitete sie im öffentlichen Gesundheitswesen Österreichs. Sie wurde Ministerialrat im Bundesministerium für Gesundheit und Umweltschutz und trat 1973 in den Ruhestand.
1980 zeichnete Yad Vashem in Jerusalem Dr. Ella Lingens-Rainer und Dr. Kurt
Lingens mit der Ehrenmedaille "Gerechte der Völker" aus. Dr.
Ella Lingens-Reiner schrieb nach ihrer Befreiung, sie habe sich in Auschwitz
im Gedanken an ihr Kind, den dreijährigen Peter, durch den Nationalsozialismus
nicht ihre Ehre und Selbstachtung rauben lassen. Oft habe sie im Geist zu ihrem
Sohn gesagt: "Vielleicht wirst du noch länger auf deine Mama warten
müssen, aber wenn sie zu dir zurückkehrt, wird sie dir in die Augen
sehen können, damit du dich nicht zu schämen brauchst, dass deine
Muttersprache Deutsch ist".
Die Gerechten Österreichs
Eine Dokumentation der Menschlichkeit
von Mosche Meisels